Wie digital darf die Schweiz sein?


    Kolumne von Franz Grüter


    (Bild: zVg)

    Wir Menschen sind widersprüchlich. Wir wissen, dass zu viel Süsses ungesund ist – und nehmen trotzdem noch ein Dessert oder einen feinen Berliner zwischendurch. Wir drücken den Liftknopf, obwohl die zwei, drei Treppen schnell gelaufen wären. Und selbstverständlich kämpfe ich mit den gleichen Widersprüchlichkeiten im Leben wie die meisten anderen auch.

    Dass der Mensch widersprüchlich ist, ist eigentlich normal und auch kein Problem, solange wir unseren eigenen Widersprüche bewusst sind. Wir wissen, dass zu wenig Bewegung ungesund ist, auch wenn wir aus Bequemlichkeit dann doch schnell das Auto nehmen.

    Mir fällt auf, dass auch bei vielen digitalen Themen eine grosse Kluft besteht zwischen den privaten Ansprüchen und dem politischen Verhalten. Oder anders gesagt: Herr und Frau Schweizer stehen sehr skeptisch gegenüber politischen Projekten wie dem E-ID-Gesetz, das eine sichere (freiwillige!) Identifizierung im Internet ermöglicht hätte. Die Vorlage wurde mit über 64 Prozent der Stimmen abgelehnt. Gleichzeitig nutzen Herr und Frau Schweizer problemlos das E-Banking oder die Kundenkarte beim Detailhändler. Und zwar freiwillig. Weil es praktisch ist und Vorteile bietet.

    Wetter, Fahrplan, Selfie
    Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sich die Menschen ihres widersprüchlichen Verhaltens im digitalen Bereich immer bewusst sind. Wir beschweren uns, wenn mal der Handy-Empfang nicht optimal ist – aber die Antenne im Quartier muss nicht sein. Die Leute sorgen sich um den Datenschutz beim digitalen Impfpass – aber sie bewegen sich in den sozialen Medien und stellen dort weit mehr private Informationen zur Verfügung. Gemäss aktuellen Erhebungen nutzen 4,6 Millionen Menschen in der Schweiz Facebook, 2,7 Millionen nutzen Instagram.

    Die Digitalisierung ist eine Realität. Neun von zehn erwachsenen Personen in der Schweiz haben ein Smartphone und nützen es fast täglich. Wir schauen die E-Mails an, schreiben eine Nachricht, schiessen ein Selfie. Man informiert sich über das Handy, liked einen Beitrag, guckt ein lustiges Filmchen, vereinbart einen Termin, checkt den Kalender, zahlt per Twint, telefoniert mit einem Kunden, bestellt eine Pizza, kauft online ein, schaut das Wetter nach oder prüft den SBB-Fahrplan.

    Das Smartphone ist kleines Büro und Unterhaltungsprogramm zugleich. Wunderbar und nicht wegzudenken. Aber eben: Der Mensch ist widersprüchlich. Wir schimpfen darüber, dass die Leute zu viel ins Handy starren oder in der Berghütte zuerst nach dem WLAN fragen… aber seien wir ehrlich: Sind wir so viel anders?

    Mit dem Faxgerät in die Zukunft?
    Wie digital soll die Schweiz sein? Zu Beginn der Pandemie zeigte sich, dass die Ärztinnen und Ärzte gewisse Daten per Fax ans Bundesamt für Gesundheit senden mussten. Das ist mehr als peinlich und verhinderte schnelles Handeln auf Basis verlässlicher Fakten. Bis heute hat es der Bund nicht geschafft, ein funktionierendes Contact-Tracing einzurichten. Die Covid-App hat sich nicht durchgesetzt.

    Gerade der Staat zeigt, dass er den digitalen Möglichkeiten hinterherhinkt. Oder dann unprofessionell vorgeht wie beim Datenleck bei der Impfplattform. Oder bei der geplanten Einführung von E-Voting, wo erst nach grossem Widerstand, und öffentlichen Intrusionstests, eklatante Schwachstellen und Mängel offengelegt werden konnten. Das ist ärgerlich, weil damit das Vertrauen der Bevölkerung in wichtige digitale Projekte verloren geht. Zum Beispiel gegenüber der 5G-Technologie. Und hier sind wir wieder bei den Widersprüchen angelangt: Die mobil übertragene Datenmenge verdoppelt sich alle 18 Monate. Nicht einfach so, sondern weil wir alle mit der Nutzung unserer Smartphones kräftig dazu beitragen. Gleichzeitig wird die Weiterentwicklung der 5G-Technologie politisch bekämpft von Leuten, die ein paar Minuten vorher noch ihr Smartphone gebraucht haben, um einen Anti-5G-Post auf Facebook zu platzieren…

    Ich bin mir bewusst, dass die Digitalisierung Sorgen und berechtigte Bedenken etwa zur Datensicherheit auslöst. Auch ich habe gewissen Projekten gegenüber eine sehr kritische Haltung. Aber wer nur die Risiken sieht, verpasst die Chancen. Die Schweiz ist erfolgreich geworden dank Innovation. Wir müssen aufpassen, dass unser Land den digitalen Anschluss nicht verliert und damit Arbeitsplätze und Wohlstand.

    Vorheriger ArtikelRollenvielfalt als Erfolgsrezept
    Nächster Artikel«Mehrkosten von 4000 Franken fürs Essen»